Das Anna und ihr Hund – Weibliche Rufnamen im Neutrum

Soziopragmatische vs. semantische Genuszuweisung in Dialekten des Deutschen und Luxemburgischen

In der Regel gilt im Deutschen das sog. natürliche Geschlechtsprinzip, d.h., Personenbezeichnungen (die Mutterder Vater) und Personennamen (die Annader Otto) weisen strikte Genus-Sexus-Korrelationen auf: Die im jeweiligen Lexem bzw. Rufnamen enthaltene biologische Geschlechtsinformation (Sexus) steuert das grammatische Geschlecht (Genus). In deutschen Dialekten und im Luxemburgischen gibt es davon gravierende Abweichungen. Hier wird auf weibliche Personen (teilweise hochfrequent) im Neutrum referiert, Bsp.: Das Monika sieht aus wie sei Vadder. Diese gravierende Abweichung vom Standarddeutschen wird an verschiedenen genusanzeigenden Wortarten wie Rufnamenartikeln (das Anna, et Maria statt die Anna/Maria) und Personalpronomen (es oder et statt sie) offenbar. Letztere können sich sogar auf feminine Frauenbezeichnungen beziehen (die Tochteres). Bei männlichen Personennamen ist eine solche Genus-Sexus-Inkongruenz ausschließlich aus einigen wenigen südalemannischen Dialekten bekannt.

Entgegen der landläufigen Bewertung werden diese neutralen Formen in den jeweiligen Dialekten nicht prinzipiell als degradierend wahrgenommen, sondern im Gegenteil als „normal“ oder sogar als sympathisch-vertraut. Die Namenneutra waren bislang unerforscht, in ihrer genauen Verbreitung unbekannt und im Abbau begriffen.

Die Karte zeigt das ungefähre Verbreitungsgebiet dieses Phänomens. Das Hauptverbreitungsareal liegt im Westmitteldeutschen einschließlich des Luxemburgischen: Im Ripuarischen und Moselfränkischen sind die Neutra am frequentesten. Das Verbreitungsgebiet reicht nach Norden ins Niederfränkische, Westfälische und Ostfälische, nach Osten ins Nordhessische und Thüringische. Nach Süden hin ziehen sich die Neutra den Rhein entlang und münden in die Schweiz.

Das Projekt (Laufzeit: 20152020) hat die dialektalen bundes- und schweizerdeutschen sowie luxemburgischen Genussysteme mit neutraler Referenz auf Mädchen und Frauen erstmals in ihrer heute noch greifbaren dialektalen Ausdehnung erfasst. Es wurden Feldforschungen mit insgesamt 270 Gewährspersonen aus Deutschland, Luxemburg und der Schweiz durchgeführt, wobei verschiedene Methoden zum Einsatz kamen. Die Erhebungen fanden an 36 Orten in Deutschland und der Schweiz statt, in Luxemburg wurden ortsunabhängige Befragungen durchgeführt. Das daraus gewonnene umfangreiche Datenmaterial wird durch Online-Umfragen und Recherchen in älteren Dialektgrammatiken und Mundartwörterbüchern ergänzt.

Aus dem Projekt sind zahlreiche Erkenntnisse zur Entstehung des Phänomens, zu den genussteuernden Faktoren und zur Grammatik der Neutra hervorgegangen. Es hat sich gezeigt, dass insbesondere der Grad an Vertrautheit, aber auch die Verwandtschaft zwischen der Frau und der sprechenden Person bzw. die familiale Rolle (Mutter, Tochter) und das Alter der weiblichen Person genusbestimmend sind. Alle untersuchten Dialekte kennen diese Faktoren, ihr Einfluss kann sich jedoch erheblich unterscheiden, was in deutlichen arealen Frequenzunterschieden der weiblichen Neutra resultiert (vgl. Baumgartner et al. 2020, Busley/Nübling 2021). Insbesondere in der Schweiz werden sie aktuell stark abgebaut (vgl. Baumgartner 2019). Im Luxemburgischen erfahren sie hingegen einen Ausbau (vgl. Martin 2019), sodass das Neutrum insbesondere hier auch bei weiblichen Tieren frequent ist (vgl. Baumgartner et al. 2021).

Historisch zeigte das Genus den Familienstand der Frau an, heute ist es primär ein Beziehungsindikator, das alte System kann jedoch noch durchschimmern (vgl. Busley/Fritzinger 2018, Busley 2021). Es hat sich als plausibel erwiesen, dass die Namenneutra durch den hochfrequenten Gebrauch diminuierter Rufnamen und neutraler Frauenbezeichnungen insbesondere für weibliche Unverheiratete entstanden sind (vgl. Nübling 2017, Baumgartner/Christen 2017, Christen/Baumgartner 2021, Busley 2021).

Darüber hinaus zeigen die Neutra auch einige grammatische Besonderheiten, etwa was das Kongruenzverhalten betrifft (vgl. Busley/Fritzinger 2020, Busley/Fritzinger 2021, Busley 2021). In vielen Dialekten existieren außerdem pronominale Vollformen wie ääs, ihns, it oder hatt, die exklusiv auf weibliche Personen referieren (vgl. Klein/Nübling 2019, Busley 2021).

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